Leistungselektronik und NextGen Testing

Interview mit Prof. Dr. Marco Jung und Dr. Ron Brandl (Fraunhofer IEE)

Was versteht man unter Leistungselektronik, und welche Aufgaben erfüllt sie in heutigen elektrischen Systemen?

Marco Jung: Leistungselektronik bezeichnet den Bereich der Elektrotechnik, der sich mit der effizienten Umwandlung von elektrischer Energie befasst. Dabei wird elektrische Energie in unterschiedliche Formen überführt, etwa von Gleich- in Wechselspannung oder umgekehrt. Ein klassisches Beispiel ist der Wechselrichter, der aus einer Gleichspannung eine Wechselspannung erzeugt. Leistungselektronik kommt in nahezu allen Lebensbereichen zum Einsatz: in Handys, in der Schnellladestation für Elektrofahrzeuge, in der Stromversorgung für Laptops oder bei der Anbindung von Wärmepumpen und Batterien an das Stromnetz. Auch in der Elektrolyse, bei der Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff aufgespalten wird, spielt sie eine zentrale Rolle, da Gleichstrom benötigt wird. Alle regenerativen Energiequellen wie Photovoltaik oder Windkraftanlagen sind nur über leistungselektronische Schnittstellen mit dem Stromnetz verbunden. Sogar in induktiven Kochfeldern oder elektrischen Zahnbürsten ist Leistungselektronik zu finden. Sie ist somit allgegenwärtig in unserem Alltag.

 

Welche Rolle spielt die Leistungselektronik im elektrischen Energiesystem von morgen, insbesondere im Kontext der Energiewende?

Marco Jung: Leistungselektronik ist eine Schlüsseltechnologie für das Gelingen der Energiewende. Heute stammen Netzspannung und -frequenz noch hauptsächlich aus konventionellen Großkraftwerken, die durch große Generatoren stabilisiert werden. Regenerative Energiequellen und elektrische Verbraucher synchronisieren sich auf diese Netzparameter. Mit dem Rückbau konventioneller Kraftwerke müssen neue Systeme diese Aufgaben übernehmen. Leistungselektronik wird dabei zentral sein: Sie gewährleistet Netzstabilität, stellt die Frequenz bereit und übernimmt auch in Störfällen (z. B. bei Kurzschlüssen) Funktionen, die bislang von Synchronmaschinen erbracht wurden. Damit dies funktioniert, müssen nicht nur die Erzeuger, sondern auch zukünftig Verbraucher entsprechende Anforderungen erfüllen. Dies ist gleichzeitig eine wichtige Grundlage für das Testen solcher Systeme.

 

Wie wichtig sind technologische Weiterentwicklungen in der Leistungselektronik, zum Beispiel im Hinblick auf Bauteilgrößen, Ressourcenverbrauch oder Wirkungsgrad?

Marco Jung: Technologische Innovationen sind essenziell, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Leistungselektronikindustrie zu sichern. Dazu gehören die Entwicklung neuer Halbleitermaterialien, neuartige passive Bauteile und verbesserte Leiterplattentechnologien für hohe Ströme. Ein weiteres wichtiges Thema ist Nachhaltigkeit: Elektronik hat meist eine kürzere Lebensdauer als klassische Netzkomponenten wie Transformatoren. Dadurch entsteht zunehmend Elektronikschrott, was ein effektives Recycling und nachhaltige Materialwahl erforderlich macht. Ziel ist es, mit geringerer Materialmenge gleichbleibende oder bessere Performance zu erzielen.

 

Welche aktuellen Entwicklungen oder technologischen Durchbrüche in der Leistungselektronik sind besonders wegweisend und prägen die Branche derzeit?

Marco Jung: Ein Meilenstein war die Einführung des IGBT (Insulated Gate Bipolar Transistor), der neue Schaltungstopologien ermöglichte. Aktuell befindet sich Siliziumkarbid (SiC) als neues Halbleitermaterial im Aufschwung. Trotz höherer Materialkosten ermöglicht SiC auf Systemebene eine Kostenreduktion durch bessere Performance und geringeren Materialbedarf. Der nächste Entwicklungsschritt ist Galliumnitrid (GaN), das in künftigen Anwendungen noch bessere Eigenschaften bieten könnte. Der große Durchbruch im höheren Leistungsbereich wird hier jedoch erst in etwa fünf Jahren erwartet.

 

Welches Potenzial bietet Leistungselektronik zur Kostenreduktion – sowohl bei der Herstellung als auch im Betrieb? Bieten standardisierte oder individuell angepasste leistungselektronische Lösungen einen größeren Mehrwert?

Marco Jung: Ein hohes Potenzial liegt in der Standardisierung von Komponenten ("Packages"), die in großen Stückzahlen kosteneffizient produziert werden können. Individuelle Lösungen werden vor allem in Spezialbereichen (z. B. Militär, Forschung) verwendet. In der industriellen Praxis dominieren standardisierte, austauschbare Module, da sie eine Second-Source-Strategie erlauben. In der Forschung werden hingegen oft Prototypen mit integrierten Sonderfunktionen getestet, etwa für Zustandsüberwachung oder Lebensdaueranalysen neuer Halbleiter wie GaN. Neue Packaging-Technologien sind teuer und werden nur entwickelt, wenn der Bedarf am Markt klar erkennbar ist.

 

Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz im Zusammenhang mit Leistungselektronik – heute und in Zukunft?

Ron Brandl: Künstliche Intelligenz (KI) wird bislang nur vorsichtig eingesetzt. In der Leistungselektronik wird sie vor allem zur Schaltungsoptimierung im Designprozess sowie zur Zustandsüberwachung (z. B. Predictive Maintenance) genutzt. In der Regelungstechnik kommen KI-Ansätze wie maschinelles Lernen ebenfalls zunehmend zum Einsatz, etwa für Anomalieerkennung oder digitale Zwillinge. Eine aktive Steuerung von Anlagen durch KI ist derzeit nicht vorstellbar, da viele Verfahren als "Black Box" nicht transparent und damit nicht einfach zu Zertifizieren sind. Zukünftig könnte KI jedoch helfen, Komponenten gezielt zu schützen, Netzsteuerung resilientere zu erweitern und die Lebensdauer von Anlagen durch vorausschauende Regelungen zu verlängern.

 

Was versteht man unter NextGen Testing in der Leistungselektronik, und welche neuen Möglichkeiten eröffnet es für die Entwicklung und Validierung?

Ron Brandl: NextGen Testing beschreibt neue Testmethoden, die klassische Labor- und Feldtests durch simulationsgestützte und automatisierte Ansätze erweitern. Dazu zählen Echtzeitsimulationen, Hardware-in-the-Loop und Rapid Control Prototyping. Der Fokus liegt auf dem Systemgedanken: Statt einzelne Komponenten isoliert zu testen, wird untersucht, wie sie im Gesamtsystem interagieren. Besonders Wechselwirkungen zwischen Anlagen, wie z. B. zwischen PV-Anlagen und Ladesäulen in einem Netzabschnitt, werden so realistisch abgebildet. Das ermöglicht die frühzeitige Erkennung kritischer Situationen, wodurch frühzeitige Optimierung und Fehlerkorrekturen die Entwicklungszyklen verkürzten können.

 

Wie verändern moderne Testverfahren – etwa simulationsbasierte Ansätze oder automatisierte Testsysteme – den Entwicklungsprozess und die Qualitätssicherung in der Leistungselektronik?

Ron Brandl: Simulationsgestützte Testverfahren schlagen eine Brücke zwischen Labortest und Feldversuch. Sie kombinieren Realitätsnähe mit hoher Kontrollmöglichkeit und Reproduzierbarkeit. So lassen sich auch Worst-Case-Szenarien wie Blackouts gezielt simulieren. Das verbessert die Fehlererkennung, erhöht die Robustheit und ermöglicht die Optimierung der Entwicklung noch vor dem realen Einsatz. Die Flexibilität dieser Verfahren macht sie zu einem zentralen Bestandteil moderner Qualitätssicherung in der Leistungselektronik.

 

 

Prof. Dr. Marco Jung leitet die Abteilung Stromrichter und elektrische Antriebssysteme am Fraunhofer seit 2017. Seit 2019 ist er Professor für Elektromobilität und elektrische Infrastruktur mit dem Schwerpunkt Leistungselektronik an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Zusätzlich ist er Mitglied in verschiedenen nationalen und international Gremien tätig. 

Dr. Ron Brandl arbeitet in den Forschungsschwerpunkte Stromrichter-Regelung, digitale Zwillinge und innovative Smart Grid Prüfmethoden als Teamleiter am Fraunhofer IEE, Forschungskoordinator bei der DERlab Vereinigung und Senior Wissenschaftler an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg.